HAUSFÜHRUNG #3 am 12. Januar, 2024
Kunstbetrachtung
Elín Jakobsdóttir – Eternal Unrest Pram Coffin: Eine Skulptur über Anfang, Ende und das Abjektive
Liebe Freund:innen des Haus Kunst Mitte,
in der dritten Ausgabe unseres Blogs HAUSFÜHRUNGEN widmen wir uns einem eindrucksvollen Werk der isländischen Künstlerin Elín Jakobsdóttir. Dieser Beitrag beleuchtet die Bedeutung und Bildsprache ihrer Skulptur Eternal Unrest Pram Coffin, die im Rahmen der Ausstellung Zwischen Zwei Orten gezeigt wurde. Die Ausstellung präsentierte Werke von Jakobsdóttir und Mark Sadler und wurde 2023 im Haus Kunst Mitte realisiert. Die Skulptur wurde zu einem zentralen Objekt in der Auseinandersetzung mit den Themen Geburt, Tod, Körperlichkeit und gesellschaftlicher Ordnung.
Elín Jakobsdóttir, Ewige Unruhe Kinderwagen Sarg, 2023, Holz und Leinwand
Die großformatige Holz- und Textilskulptur Eternal Unrest Pram Coffin entstand im Jahr 2023 und bestand aus zwei Kisten, die auf einem zierlichen Rahmen mit dünnen Holzbeinen montiert waren. Der längliche Kasten in Erwachsenengröße bildete den Hauptteil der Skulptur und erinnerte stark an einen Sarg. An diesem Hauptkörper war ein kleinerer Kasten befestigt, dessen Form an einen Kinderwagen-Sonnenschirm erinnerte. Im Gegensatz zu einem offenen Design verfügte das Werk über eine tunnelartige Öffnung. Elín Jakobsdóttir legte den Fokus nicht auf den mittleren Lebensabschnitt, der symbolisch durch einen verborgenen Innenraum repräsentiert wurde, sondern auf den Anfang und das Ende des Lebens. So wie der aus farblosem Leinen gefertigte menschliche Körper aus dem Pram-Coffin heraus sackte, zeigte das Werk symbolisch einen Lebenszyklus: Zu Beginn kommen wir als Säugling hinein, am Ende verlassen wir es als Leiche.
Die Idee, dass sowohl Anfang als auch Ende des Lebens durch das Konzept des Abjekts gekennzeichnet sind, wurde von der Theoretikerin Julia Kristeva im Buch Powers of Horror formuliert. Jakobsdóttir griff diese Theorie in ihrer Skulptur auf. Der schlaffe Körper, der den Pram-Coffin verlässt, symbolisierte das Abjektive – das, was außerhalb sozialer Ordnung steht. Der Titel des Werks verwies zugleich auf einen Kinderwagen, was dem Objekt eine direkt feministische Bedeutungsebene verlieh. Die Skulptur thematisierte damit nicht nur den Übergang des Lebens, sondern auch die Rolle des weiblichen Körpers in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung.
In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung verwies Jakobsdóttir auf gesellschaftliche Prozesse der Abjektion weiblicher Körperfunktionen wie Menstruation, Schwangerschaft und Geburt. Diese biologischen Arbeitsprozesse stabilisieren die Gesellschaft, werden jedoch gleichzeitig als Teil sogenannter sozial-reproduktiver Arbeit wie Hausarbeit und Kindererziehung, die traditionell Frauen zugeschrieben wird, gesellschaftlich abgewertet. Die Skulptur reflektierte somit die widersprüchliche Rolle von Weiblichkeit in sozialen Machtverhältnissen und stellte die Mechanismen in Frage, durch die geschlechtsspezifische Rollenbilder reproduziert und gegen Frauen verwendet werden.
Das Abjektive markiert in der psychologischen Entwicklung den Moment, in dem wir uns von einem anderen Körper trennen, um ein eigenes Selbst zu formen. Jakobsdóttir nutzte in ihrem Werk dieses Konzept, um das "Reale" ins Bewusstsein zu bringen, unsere Körperlichkeit zu reflektieren und den Betrachter direkt mit der menschlichen Vergänglichkeit zu konfrontieren. Dieser Prozess ist in seiner Reinform vorsprachlich, wie beim Anblick eines echten Leichnams. Er verweist auf den Zusammenbruch der Trennung von Subjekt und Objekt, eine Trennung, die grundlegend für die Bildung einer individuellen Identität ist.
Der symbolische Leichnam in Eternal Unrest Pram Coffin stand für das Abjektive in gereinigter ästhetischer Form. Ohne Worte erfahrbar, bot die Skulptur eine stille, doch eindrückliche Reflexion über unsere Existenz. In der Auseinandersetzung mit dem Objekt begab sich der Betrachter auf eine doppelte Reise durch die Angst vor dem Unbekannten, sowohl auf der Ebene des Lebenszyklus als auch im Hinblick auf Mutterschaft.
Im Kontext der Ausstellung Zwischen Zwei Orten wurde Jakobsdóttirs Skulptur zu einem Werk, das den Titel der Ausstellung selbst herausforderte. Das Leben erschien hier als eine Bewegung zwischen zwei Grenzen – einem vorsemiotischen Ort des Vorlebens und dem Tod. Diese existenzielle Perspektive verankerte Jakobsdóttirs künstlerischen Ansatz fest in einer Tradition der feministischen Theorie und der Reflexion über die physischen Bedingungen des Menschseins.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Haus Kunst Mitte Team
Weiterführende Literatur / Selected Literature:
Julia Kristeva, Powers of Horror, 1980
Jacques Lacan, The Object Relation: The Seminar of Jacques Lacan, Book IV, 2021